Leseprobe: Das Wolkenschloss
Die Luftbeere
Ferienbeginn
Die Wolkenkinder
Die Entscheidung
Der nächste Morgen
Am Treffpunkt
In der Luft
Im Wolkenschloss
Die fremde Welt auf den Wolken
Die Wolkenrutsche
Wieder zurück auf der Erde
Die Quelle
Unter der Erde
Die Spinne
Der Wasserfall
Bei der Erdkröte
Die Fliege
Die zweite und dritte Aufgabe
Die Wanderameisen
In der Ameisenkolonie
Die letzte Arbeit
Wo geht es wieder hinaus?
Reicht die Zeit noch?
Das Fest
Der Wirbelwind
Aufregung im Schloss
Wo gibt es Hilfe?
Gefangen
Zwischen Hoffen und Bangen
Endlich
Aufbau und Suche
Gefunden
Unterwegs zum Wirbelwind
Von allen allein gelassen
Die Verhandlung
Schleierwolken
Wo ist Aurina
Ein schönes Geschenk
Rache
Die Lösung des Problems
Regenbogen
Heute ist es besonders heiss. Martin sitzt, wie alle anderen Kinder der vierten Klasse, zappelig und ungeduldig auf seinem Platz und schwitzt. Die Zeit scheint still zu stehen, genau so still, wie die Fliege, die an der weissen Wand sitzt. Martin schaut schon seit längerem dorthin. Am liebsten würde er sie kitzeln. – Er kann sich überhaupt nicht mehr aufs Zuhören konzentrieren. Die Stimme des Lehrers rückt immer weiter weg und erinnert ihn an das Summen einer Fliege, die grossen Brummer, die sich ab und zu in sein Zimmer verirren.
Da läutet die Schulglocke. Die letzte Stunde der vierten Klasse ist vorbei, die lang ersehnten Sommerferien beginnen. Rasch packt Martin die letzten Sachen zusammen. Es gibt ein grosses Gedränge bei der Tür. Jeder will sich zuerst vom Lehrer verabschieden.
Und endlich ist es so weit. Die Kinder stürmen auf den Pausenplatz und lassen das Schulhaus für einige Zeit hinter sich. Vor ihnen liegen viele schöne, erlebnisreiche Tage.
Martin schlendert zufrieden nach Hause. Jetzt hat er alle Zeit der Welt für sich. Und morgen geht er mit seiner Schwester Sarah zusammen für eine Woche in die Ferien zu seiner Tante. Die hat auch zwei Kinder. Wenn die Vier beisammen sind, haben sie es immer lustig. Er freut sich darauf.
Es kommt aber ganz anders. Am Abend lernen Martin und Sarah die Wolkenkinder kennen. Sie freunden sich an und versprechen ihre Hilfe.
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Martin und Sarah verlassen das Haus und gehen in den wundervollen Sommermorgen hinaus. Sarah hüpft und pfeift vor Freude über den schönen Tag. Martin lässt sich heute dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Beide sind gespannt, was auf sie zukommen wird. Die vereinbarte Zeit ist schon bald da. Aber am ganzen Himmel ist kein Wölkchen zu sehen. Auch in Sarah steigen kleine Zweifel auf. Wie sollen die Wolkenkinder zu ihnen kommen, wenn der Himmel so blau ist?
Jetzt nähern sie sich dem Bachbord. Die hohen Bäume ragen vor ihnen auf. Kleine Büsche versperren den Weg. Nachdem sie sich durchs Gras und Gebüsch gedrängt haben, stehen sie oben am Ufer und schauen zum leise murmelnden Wasser hinunter. Kein Wolkenkind ist zu sehen. Nur ein kleiner Nebel hängt zwischen dem Gestrüpp. Die beiden Kinder setzen sich und warten ohne grosse Hoffnung. Auch bei Sarah ist der Mut gesunken.
Da löst sich langsam ein feiner Dunst vom Nebel. Er wird immer dichter. Zuerst beachten ihn die Kinder überhaupt nicht. Dann aber bemerken sie erstaunt, dass daraus eines der Wolkenkinder tritt. Gespannt stehen sie auf und schauen dorthin. Ein Wolkenkind nach dem andern verlässt das dunstige Gebilde, bis zuletzt alle fünf Gestalten wie gestern vor ihnen stehen. Wieder spüren sie die angenehme Frische, welche diese leichten Wesen umhüllt.
„Hallo“, werden sie freudig begrüsst.
„Guten Morgen“, erwidern die überraschten Kinder den Gruss.
„Wir sind froh“, nehmen die Wolkenkinder wieder das Wort, „dass ihr uns gestern geglaubt habt und zum vereinbarten Treffpunkt erschienen seid.“
„Nicht alle halten ihr Versprechen und kommen dann auch wirklich“, weiss das kleinste Wolkenkind zu berichten. „Ich habe schon ein wenig Angst gehabt, dass es bei euch auch so ist. – Übrigens, ich heisse Kabori.“ Während es das sagt, streckt das Wolkenwesen den beiden Kindern seine feine Hand entgegen. Aber Sarah und Martin können sie nicht fassen. Sie spüren nur kühle Luft.
Kabori blickt auf die Halskette aus farbigen Plastikperlen, die Sarah um den Hals trägt. Die einzelnen Kugeln glitzern so schön in der Sonne. Sarah hat sie erst vor kurzem selber aufgefädelt.
„Gefällt sie dir?“, fragt sie das Wolkenmädchen.
Kabori nickt.
„Sie passt wunderbar zu deinem Kleid.“
„Typisch Mädchen“, denkt Martin missbilligend.
Auch die andern Wolkenkinder nennen ihre Namen, doch sie erscheinen den Menschenkindern so fremd, dass sie es nicht schaffen, sich die ungewöhnlichen Wörter zu merken.
„Na, dann kann es ja jetzt los gehen“, sagt Selan, eines der grossen Wolkenkinder. „Ihr kommt zuerst mit uns zum Wolkenschloss. Dort stellen wir euch unserem König vor. Dann erfahrt ihr genau, was ihr tun sollt.“
Martin schaut zu dem feinen Nebel, der immer noch im Geäst der Büsche hängt. Er hat grosse Zweifel. Wie soll es ihm gelingen, auf die Wolke zu steigen? Er und Sarah sind doch viel zu schwer.
Wie wenn Selan seine Gedanken gelesen hätte, tritt er jetzt zu ihm und streckt den Kindern seine offene Hand entgegen. Darauf liegen zwei winzig kleine, aus sich heraus leuchtende Kügelchen.
„Hier habe ich für jeden von euch ein Luftkörnchen. Es ist ein Teil von unserer Luftbeere. Esst es und ihr werdet leicht wie wir. So könnt ihr mit uns zum Wolkenschloss kommen.“
Überrascht und neugierig schauen die beiden Kinder die leuchtenden Körnchen an. Wie schmecken sie und wie werden sie sich fühlen, wenn sie diese kleinen Dinger gegessen haben?
„Sollen wir wirklich?“, fragt Martin.
Sarah gibt keine Antwort. Stattdessen greift sie mutig zu. Vorsichtig nimmt sie das Luftkörnchen zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtet es eingehend. Dann legt sie es auf ihre Zunge. Ihr Mund fühlt sich an, wie wenn ein sanfter Wind darin blasen würde, kühl und angenehm. Jetzt schluckt sie es hinunter. Sofort spürt sie eine unglaubliche Leichtigkeit, die sich von ihrem Bauch aus in den ganzen Körper verbreitet, bis in die äussersten Zehen- und Fingerspitzen.
Martin schaut gespannt zu. Äusserlich sieht er keine Veränderung, aber er spürt neben sich eine angenehme Kühle, die von Sarah auszugehen scheint.
„Wie geht es dir?“, will er wissen. Dabei versucht er, ihre Hand zu berühren. Aber das gelingt ihm nicht. Er greift nur in die Luft. Etwas erschreckt probiert er seine Hand auf Sarahs Schulter zu legen. Aber auch das geht nicht. Martin spürt seine Schwester nicht. Seine Hand sinkt durch Sarah hindurch, wie wenn sie nicht da wäre.
Sarah lacht auf.
„Hör auf, Martin! Du weisst doch, wie kitzlig ich am Bauch bin. Mir geht es übrigens bestens!“
Die Wolkenkinder haben ihnen gespannt zugeschaut. Selan hält Martin immer noch seine offene Hand mit dem Luftkörnchen hin. Sein Blick fordert ihn auf, es zu nehmen. Obwohl Martin bei der Sache nicht recht wohl ist, nimmt er es endlich. Er will jetzt alles schnell hinter sich bringen. Deshalb steckt er das Körnchen sofort in den Mund und schluckt es. Auch Martin spürt die Veränderung. Er fühlt sich leicht und glücklich.
„Können wir jetzt gehen?“, fragt Kabori ungeduldig.
Sarah und Martin nicken. Kabori nimmt Sarah bei der Hand und führt sie zum Nebel im Gebüsch. Erst jetzt merkt das Mädchen, dass sie die Wolkenkinder nun berühren kann. Die Menschenkinder sind so leicht und luftig geworden wie die Wolkenkinder.
Sie kommen zum Nebel im Gebüsch. Mit einem letzten Schritt treten sie hinein. Sarah und Martin sind sehr überrascht. Da steht das Wolkenruderboot. Obwohl der Nebel hier sehr fein ist, haben sie es vorher nicht gesehen. Eines nach dem andern steigen sie alle ein. Die Geschwister nehmen auf einem Bänklein Platz. Kabori setzt sich neben Sarah. Selan und Epamuk greifen zu den Rudern.
Ganz langsam steigt das Ruderboot in die Luft. Es schwebt immer höher. Die Stämme und Blätter gleiten an ihnen vorbei. Jetzt können sie gerade noch einen letzten Blick auf das Plätzchen werfen, wo sie die Wolkenkinder gestern zum ersten Mal gesehen haben. Dann verschwindet alles hinter dem dichten Blätterdach. Die singende Amsel, die zu oberst auf einem Ast sitzt, lässt sich von ihnen nicht stören. Schon sehen sie die Baumwipfel unter sich. Und immer höher und höher steigt das Ruderboot mit den sieben Gestalten. Martin und Sarah staunen. Es gefällt ihnen ausgezeichnet in der Luft.
„Schau, dort ist unser Haus!“, ruft Sarah. „Mutter ist im Garten. Sie hängt gerade mein Pyjama mit dem lustigen Clown auf.“
„Kann sie uns wohl sehen, wenn sie heraufblickt?“, fragt Martin.
„Ich glaube nicht“, meint seine Schwester. „Wir sind schon viel zu hoch. Ausserdem kommt sie sicher nicht auf die Idee, dass wir wirklich hier oben sein könnten, auch wenn sie uns sehen würde.“
„Eure Mutter hat euch doch vergessen!“, erinnert Kabori die Menschenkinder daran.
Ein komisches Gefühl macht sich in Martins und Sarahs Magengegend breit. Schlagartig wird ihnen die ganze Tragweite ihres Entscheides bewusst. Auch ihre Mutter soll sie vergessen haben? Und was ist, wenn sie sich nie mehr an sie erinnert?
Das weisse Ruderboot ist die einzige Wolke, die im Moment am Himmel zu sehen ist. Langsam steigt sie höher und treibt in die Richtung der Berge. Das geräuschlose Dahingleiten gefällt den Geschwistern sehr gut. Aus ihrer luftigen Höhe, geniessen sie den wunderbaren Ausblick auf die Landschaft unter ihnen. Die Äcker und Felder haben viele verschiedene Grün-, Gelb- und Brauntöne. Kleinere und grössere Bäche schlängeln sich zwischen ihnen durch. Auf den Strassen scheinen Spielzeugautos zu fahren. Die Dörfer wechseln sich ab mit Wiesen und Wäldern. Langsam werden die sanften Hügel höher und rauer. Es wird immer felsiger unter ihnen. Zwischendurch sehen sie tiefe Schluchten. Die weiter entfernten, höheren Gipfel sind sogar noch mit Schnee bedeckt.
Selan und Epamuk steuern das Ruderboot zu den ersten dünnen Wolken über den Bergen. Von hier sieht es aus wie ein riesiger, flacher, weicher Wattebausch. Weiter weg türmen sich die Wolken höher auf. Dorthin wollen sie.
Je näher sie kommen, desto genauer sehen Martin und Sarah, worauf sie zufahren. Die Wolken nehmen immer mehr die Form eines riesigen Schlosses an, mit vielen grossen und kleinen Türmen, Erkern, Toren, Gebäuden, die mit Brücken verbunden sind und watteweichen Plätzen dazwischen.
Kabori tippt Sarah an den Arm.
„Dort im schmalen, hohen Turm, neben dem Erker, ist mein Zimmer.“
Jetzt wird das Boot nur noch durch einen feinen Windhauch zum grössten Eingangstor getrieben.