Leseprobe: Das Schneckenhaus
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Silberspur
Duftspuren
Fliegen wäre schön
Abenteuer im Teich
Schatten in der Nacht
Leben am seidenen Faden
Über Stock und Stein
Feuer und Flamme
Vorwort
Liebe Leserin lieber Leser
Tiere finde ich schon seit meiner Kindheit spannend. Es interessiert mich, was rund um mich herum lebt. Ich bin immer wieder überrascht, wie sich die einzelnen Arten an ihre Umwelt angepasst haben und welche Fähigkeiten sie besitzen.
In diesem Buch habe ich versucht, in die Haut von verschiedenen Tieren zu schlüpfen und die Welt durch ihre Augen wahrzunehmen.
Ich hoffe, ich kann damit die ausgewählten Tiere meinen Lesern näher bringen, ihr Verständnis und Interesse an ihnen wecken oder fördern und sie neugierig machen auf mehr.
Nicht zuletzt soll es aber auch einfach Spass machen, etwas mit den Tieren zu erleben.
Jedes Kapitel ist für sich eine Geschichte und in sich abgeschlossen. Nach dem ersten Kapitel, in dem die Situation erklärt wird, kann nach Lust und Laune hin und her gesprungen werden.
Viel Vergnügen beim „Entdecken der Tierwelt“!
Daniela Ackermann
Die Silberspur
Reto sitzt auf dem alten, abgenutzten Holzstuhl an seinem Schreibtisch. Er versucht zum wiederholten Mal auf den hinteren beiden Beinen zu stehen, ohne sich zu halten. Dabei knarrt der Stuhl leise. Wenn seine Mutter das sähe!
Aber immer wieder kippt er mit leisem Klack nach vorn auf den Teppichboden zurück. Es ist schwierig dieses Gleichgewicht zu finden, denn zu weit nach hinten darf er sich nicht lehnen, sonst … passiert es.
Vor seinem Fenster wackelt ein bunter Schmetterling mit Seidenpapierflügeln. Den hat Reto erst kürzlich gebastelt.
„Reto, bist du bald fertig?“
Das ist seine Mutter, die aus der Küche ruft.
Jetzt besinnt sich Reto wieder darauf, was er eigentlich machen sollte. Vor ihm liegt ein Heft, daneben sein Bleistift. Er muss noch sechzehn Rechnungen lösen. Aber dazu hat er gerade überhaupt keine Lust. Und wenn er ehrlich ist, hat er dazu nie Lust. Die blöden Hausaufgaben könnten ihm gestohlen bleiben. Leider besteht die Mutter immer darauf, dass er die Aufgaben sofort macht. Dabei wäre doch Spielen viel interessanter. Reto hat das Gefühl, jeder Legostein hinter ihm auf dem Boden rufe seinen Namen und verspreche ihm eine tolle, spannende Zeit.
„Soll ich? Solange es die Mutter nicht sieht! Der Tag dauert noch lange, die Hausaufgaben kann ich auch später noch erledigen!“
Und schon sitzt er mitten unter seinen Legos und tüftelt am Turm herum, der diesmal noch höher werden soll, grösser als er selber ist, mit Fenstern, und einer Wendeltreppe im Innern.
Reto arbeitet mit Feuereifer an seinem Bauwerk, als er unsanft aus dieser Welt gerissen wird.
„Reto! Was machst du hier auf dem Boden? Du hast doch deine Rechnungen bestimmt noch nicht fertig! Marsch an die Arbeit!“
Schuldbewusst, aber ärgerlich, zieht sich Reto wieder an seinen Schreibtisch zurück und schaut seine Rechnungen an. Er spürt den Blick seiner Mutter im Rücken.
„Das sind noch so viele!“, denkt er entmutigt.
Kaum ist Mama aus dem Zimmer, nimmt er das alte, fast weisse Schneckenhaus in die Hände, das er heute auf dem Heimweg gefunden hat.
Es ist nicht besonders schön. Die Sonne hat es total ausgebleicht. Aber es ist gross. Ausserdem gefallen ihm alle Schneckenhäuser. Er muss jedes mitnehmen, das er sieht, deshalb hat er schon eine ganze Sammlung davon.
Der Rand hat einen wunderbaren Abschluss. Reto fährt darüber, rundherum, dem leicht verdickten Rand nach und kommt dann zu den Rillen, die übers ganze Schneckenhaus verteilt sind. Wenn man mit dem Finger vorsichtig ins Loch hinein greift, sind die Wände dort seidig fein und glatt. Auch wenn es aussen alt aussieht, ist es innen noch ganz frisch, wie wenn es erst seit kurzem leer stehen würde.
Reto stellt sich vor, wie die Schnecke darin gewohnt hat. Er legt das Schneckenhaus auf seinen Handrücken, macht eine Faust und streckt dann seinen Zeige- und Mittelfinger gerade nach vorne. Das sollen die Fühler sein. Mit dieser Schnecke schleicht er über sein Heft.
Plötzlich hört Reto eine feine, fragende Stimme.
„In welches Tier möchtest du dich verwandeln?“
Reto schaut sich um. Da ist niemand. Deshalb spielt er weiter und ist sicher, dass er sich die Stimme nur eingebildet hat. Aber da ist sie schon wieder.
„In welches Tier möchtest du dich verwandeln?“
Neugierig schaut der Knabe um sich. Das Zimmer ist leer. Da sind zwar seine Stofftiere, sein hellbrauner, abgewetzter Lieblingsstoffhund mit den hängenden Ohren und dem treuherzigen Blick und all die andern. Aber so richtig echt, wie das vorhin getönt hat, haben diese Tiere noch nie mit ihm gesprochen!
Etwas beunruhigt spielt er weiter.
„Wer erlaubt sich hier einen Scherz mit mir?“
Schon wieder hört er die gleiche Frage. Weil auch diesmal niemand zu sehen ist, fragt Reto:
„Wer spricht hier?“
„Ich bin es.“
„Wer ist ich?“
„Na, natürlich die Schnecke auf deiner Hand!“
Entgeistert schaut Reto auf seine Hand. Da ist nichts, ausser dem leeren Schneckenhaus. Ungläubig nimmt er es in seine Hand und schaut hinein.
„Was glotzt du mich so komisch an?“, fragt die Stimme jetzt ein wenig ungeduldig.
„Aber ich sehe ja gar nichts! Wer bist du?“
„Ich bin der Geist dieses Schneckenhauses.“
„Ach so“, antwortet Reto, versteht aber überhaupt nichts. „Was hast du mich zuerst gefragt?“, will er jetzt aber trotzdem wissen.
„In welches Tier möchtest du dich verwandeln?“, wiederholt der Schneckengeist geduldig seine Frage.
„Meinst du das im Ernst? Könntest du mich wirklich in ein Tier verwandeln?“
„Aber natürlich! Denkst du, ich hätte dich sonst danach gefragt?“
Reto ist sprachlos. Natürlich hat er sich auch schon gewünscht, ein Tier zu sein. Aber echt daran geglaubt, dass das einmal Wirklichkeit werden könnte, das hat er nicht.
„Warum fragst du mich das?“
„Du hast mit mir Schnecke gespielt. Das ruft mich wach und ich stelle jedem diese Frage.“
In Retos Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. Er kann sie kaum fassen. Abenteuerlust streitet sich mit Bedenken darüber, ob ihn seine Familie auch als Tier behalten und gern haben könnte. Zweifel, ob das alles stimmt, mischen sich hinein. Ausserdem tauchen die verschiedensten Tiere in seinen Gedanken auf: Reh, Huhn, Fisch, Wolf, Ameise, Vogel, Giraffe, Schlange … Es gibt so viele!
„Der Zauber dauert übrigens nur eine gewisse Zeit. Nachher verwandelst du dich automatisch zurück“, erklärt der Schneckengeist.
„Dann möchte ich …“
Reto kann sich einfach nicht entscheiden.
„Soll ich ein Meerschweinchen werden, wie mein Freund eines hat oder ein Wellensittich wie derjenige meiner Grossmutter oder ein süsser Hund, wie der Lino aus der Nachbarschaft oder … Ja, warum denn nicht?“, überlegt er sich.
„Ich möchte – eine Schnecke werden.“
Das ist sicher ein guter Anfang und ein Versuch wert. Später kann er sich dann andere, grössere Tiere wünschen.
Reto spürt ein Spannen auf dem Rücken. Dort wächst ein Buckel. Das wird wohl das Schneckenhaus. Als er mit den Armen nach hinten tasten will, schrumpfen die zusammen, bis sie sich in seinen Körper zurückgezogen haben. An der Stirn und den Backen wachsen Fühler heraus. Das kitzelt, aber er hat keine Hände mehr, um zu kratzen. Er versucht sich mit Grimassen zu helfen, aber auch das wird immer schwieriger. Die Beine verschmelzen langsam. Jetzt kippt der Knabe, oder wohl besser die Schnecke, auf den Bauch. Die Umgebung wächst unaufhaltsam. Er sieht kaum bis ans obere Ende des Kastens, so hoch ist der geworden.
„Oder ist es gar nicht das Zimmer, das grösser wird, bin ich es, der schon bald so winzig ist, wie eine richtige Schnecke?“
Reto kann kaum glauben, was er da gerade erlebt. Mit seinen langen Stielaugen versucht er sich zu orientieren.
„Welches ist der kürzeste Weg nach draussen? Ich muss unbedingt weg, hier ist es viel zu trocken und zu heiss.“
Zum Glück steht das Fenster offen.
„Das werde ich wohl schaffen!“
Mutig macht sich Reto auf den Weg zum Fenster. Was er als Knabe in drei Schritten hinter sich hat, ist für ihn jetzt als Schnecke eine stundenlange Arbeit.
„Wenn ich immerzu schleiche und nicht aufgebe, werde ich es schaffen, auch wenn ich langsam bin.“
Zuerst geht es das Stuhlbein hinunter. Das dauert eine ganze Ewigkeit.
„War es wirklich eine gute Wahl, Schnecke zu werden? Ein etwas schnelleres Tier wäre viel angenehmer!“, geht es Reto durch den Kopf.
Endlich, nach geraumer Zeit, kommt der Schneckenknabe auf dem Teppichboden an. Wie lange das gedauert hat, weiss er nicht, aber er weiss ganz genau, dass er Durst hat, schrecklichen Durst! Er kann bald an nichts anderes mehr denken. Wenn er doch nur nicht so langsam wäre!
Reto kämpft sich vorwärts, immer dem hellen Fenster entgegen. Dabei spürt er einen so grossen Durst, wie er ihn sein ganzes Leben noch nicht gehabt hat.
Da geht plötzlich die Zimmertür auf. Seine Mutter steht riesengross dort.
„Reto, bist du fertig mit deinen Hausaufgaben? Reto! Wo bist du?“
Sie macht zwei Schritte ins Zimmer hinein.
„Igitt! Eine Schnecke! Und das mitten auf dem Teppich! Reto, was hast du mir da wieder ins Haus geschleppt?!“
Angewidert packt sie die Schnecke an ihrem Haus und reisst sie in die Höhe.
Reto zieht vor Schreck zuerst seine Fühler ein, dann sich selbst so weit wie möglich ins Schneckenhaus zurück.
Seine Mutter wirft, ohne zu wissen, wen sie da in der Hand hält, die Schnecke in hohem Bogen aus dem Zimmerfenster in den Garten.
Unsanft landet Reto auf der Erde. Zum Glück hat er sich nicht verletzt. Vorsichtig wagt er sich nach einiger Zeit aus seinem Häuschen. Obwohl sein Herz noch bis zu den Fühlerspitzen klopft, fühlt er sich hier viel wohler.
Die Erde ist angenehm feucht. Rund herum wachsen die unterschiedlichsten Blätter und Blumen. Es duftet ganz verführerisch. Sofort beginnt Reto die verschiedenen Blätter anzuknabbern. Er probiert da und dort einen Bissen. Jede Pflanze hat einen anderen herrlichen Geschmack. Jetzt macht ihm seine Langsamkeit überhaupt nichts mehr aus. Hier ist er in einem richtigen Schlaraffenland.
Da kommt eine Raupe blitzschnell auf ihn zu. Reto zieht die Fühler ein. Bis er seine Augen wieder ausstreckt, ist nichts mehr von der Raupe zu sehen.
„Die hat mich aber erschreckt!“
Jetzt trägt ihm ein Windhauch den himmlischsten Duft zu, den er je gerochen hat. Reto reckt seine Fühler dorthin und meint mehrere rot leuchtende Flecken zu entdecken. Was ist das? Auf dem Weg dorthin probiert er von allem einen Bissen, an dem er vorbei kommt. Das dauert, ist aber ausserordentlich spannend. Je näher er kommt, desto kleiner werden die roten Punkte. Da stimmt doch etwas nicht. Auch seine Umgebung verändert sich. Die Blätter und Blumen schrumpfen zusammen.
„Nein! Ich wachse wieder!“
Die Fühler ziehen sich in den Kopf zurück, dafür bilden sich die Nase und die Augenbrauen. Schritt für Schritt verwandelt sich die Schnecke in Reto zurück.
Geschafft bleibt er noch eine Zeit lang auf dem Bauch liegen. Genau neben ihm ist das Erdbeerbeet. Rasch wandern ein paar reife Beeren in seinen Mund. Nicht nur Schnecken lieben diese Köstlichkeit.
Das war ein tolles Abenteuer. Was eine Schnecke doch für ein spannendes Leben haben kann! Aber das ist jetzt vorbei. Drinnen warten noch seine Rechnungen auf ihn.
Leise schleicht er sich hinein. Mutter soll nicht merken, dass er draussen war! Wie hätte er ihr auch alles erklären sollen? Der Knabe huscht in sein Zimmer und schliesst die Tür hinter sich.
Auf dem Schreibtisch liegt noch immer das verwitterte Schneckenhaus neben seinem offenen Heft. Unglaublich, welche enorme Kraft in diesem gewöhnlichen Gegenstand steckt. Oder hat er alles nur geträumt?
Sein Blick wandert den Weg ab, den er als kleine Schnecke zurückgelegt hat, vom Stuhl auf den Boden, bis beinahe zum Fenster. Auf dem Teppich glitzert ein feines Band. Er bückt sich und untersucht es. Da ist eine dünne Schleimspur auf dem Boden, so wie sie Schnecken hinterlassen, wo sie durchgekrochen sind. Gedankenverloren setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch.
„Wenn es mir gelungen ist als kleine Schnecke so weit über den trockenen Boden zu schleichen, werde ich wohl auch meine Rechnungen schaffen! Schön eine nach der andern, Rutsch für Rutsch, Schritt für Schritt! – Und wenn ich fertig bin, überlege ich mir, welches Tier ich nächstes Mal werden möchte.“