Leseprobe: Der doppelte Prinz
Ein aufregender Tag
Eine Reise mit Überraschungen
Wo bin ich?
Entführt
Auf dem Schloss
Der erste Tag
Thomas hat eine neue Kollegin und einen Feind
Die Zeit vergeht in riesen Schritten
Der Schatten
Gefangen im Wald
Thomas fasst einen Entschluss
Die alte Frau im Wald
Wieder unterwegs
Die Entdeckung
Das aufsteigende Wasser
Die schwarzen Diener
Jodoks Burg
Der fressende Wald
Die Dunkelheit
Der Abgrund
Das letzte Stück
Thomas gibt nicht auf
Die Flucht
Wieder zurück
Scherben bringen nicht immer Glück
Liesas Vater
Zuletzt klappt es doch noch
Die Überraschung
Ein aufregender Tag
Thomas fährt auf. Er sitzt im Bett und ist sofort hellwach. Endlich ist der grosse Tag da. Thomas, ein Knabe von neun Jahren, ist ganz aufgeregt.
Schon gestern Abend konnte er fast nicht einschlafen. Er machte sich Sorgen, er würde am Morgen verschlafen und seine Klassenkameraden gingen ohne ihn auf die Schulreise. Mama hat ihm zwar hoch und heilig versprechen müssen, dass sie ihn früh genug wecken würde, aber ganz beruhigen konnte das Thomas trotzdem nicht.
Nun sitzt er im Bett und kann kaum erwarten bis die Mutter ihn ruft. Ob sie es vergessen hat? Thomas hält es nicht länger im Bett aus. Geschwind schlägt er die Decke zurück und steht auf.
In der Küche unten hört er seine Mutter hantieren. Sie scheint das Morgenessen vorzubereiten. Mit wenigen Sätzen springt er die Treppe hinunter. Mutter schneidet gerade Brot.
Sie ist überhaupt nicht überrascht, dass Thomas schon aufgestanden ist, auch wenn es noch etwas früh ist. Im Gegenteil, sie versteht seine Aufregung und lächelt ihm entgegen.
Normalerweise muss die Mutter Thomas mehrmals rufen, bis er endlich am Frühstück sitzt. Aber am Schulreisetag ist alles anders.
Weil Mama mit den Vorbereitungen noch nicht ganz fertig ist, geht Thomas wieder nach oben. Er kann jetzt nicht still auf dem Stuhl sitzen bleiben und warten.
Seine Schwester liegt in seligem Schlummer, tief unter der Bettdecke.
Endlich hat Thomas einmal die Gelegenheit, sie zu wecken. Meist ist die Situation nämlich umgekehrt.
Aber noch während er überlegt, wie er das nichts ahnende Mädchen aus dem Land der Träume reissen könnte, schlägt sie die Augen auf und ist sofort hellwach.
Wie schafft sie das nur? Na, vielleicht gelingt ihm sein Weckmanöver nächstes Mal.
Jetzt ist aber höchste Zeit zum Frühstücken. Heute hat Thomas gar keine Lust mit seiner Schwester zu scherzen, dazu ist er viel zu aufgeregt. In Gedanken ist er bereits auf der Schulreise, fährt Zug und wandert inmitten der fröhlichen Schar der Drittklässler.
Nach dem Morgenessen holt Thomas den Rucksack vom Keller herauf. Er hilft, die feinen Sachen einzupacken. Ganz zu oberst legt er das Säcklein mit dem Tutti-Frutti hin. So hat er es sofort zur Hand, wenn zum ersten Mal gerastet wird.
Noch einige Male rennt er im Haus rauf und runter, bis endlich alles bereit ist.
Da läutet es auch schon an der Haustür. Draussen steht strahlend Thomas Freund, am Rücken den vollgepackten Rucksack, auf dem Kopf eine fröhliche Schirmmütze.
Schnell schlüpft auch Thomas in seine Wanderschuhe, nimmt den schweren Rucksack auf und verabschiedet sich von seiner Mutter und der Schwester.
Die beiden Freunde machen sich auf den Weg zum Bahnhof, wo sich heute die Klasse trifft. Genau so wie ihre Herzen, hüpfen ihre Füsse und wollen keinen Moment still stehen.
Auf dem Bahnhof sind schon einige Kinder versammelt und von Minute zu Minute werden es mehr. Auch die Lehrerin ist hier. In der Hand die grosse Fahrkarte, versucht sie in die lebhafte Schar etwas Ordnung zu bringen.
Endlich sind alle da und die Gruppe geht geschlossen durch die Unterführung auf den richtigen Bahnsteig. Bald kommt der Zug und die muntere Schar steigt ein. Die Reise beginnt.
Eine Reise mit Überraschungen
Jeder hat seinen Platz eingenommen. Die Lehrerin zählt ihre Drittklässler. Da fährt der Zug auch schon ab. Erst einmal werden die Jacken aufgehängt und die Rucksäcke der Kameraden inspiziert. Wer hat die besten Sachen eingepackt?
Thomas ist sehr zufrieden mit seinem Rucksackinhalt. Er freut sich schon riesig auf seine Wurst, die er am Mittag braten darf. Dazu gibt es ein feines, frisches Brötchen. Bevor er den Rucksack wieder schliesst, nimmt er noch schnell eine Nuss aus dem Tutti-Frutti. Natürlich darf auch sein Freund etwas aussuchen. Dann stellt er den Rucksack auf den Boden und schaut aus dem Fenster hinaus. Die Häuser und Bäume fliegen nur so vorbei. Jetzt wird der Zug langsamer. Sie fahren in einen Bahnhof ein. Aber es ist zum Glück noch längst nicht Zeit zum Aussteigen.
Als der Zug wieder anfährt, bittet die Lehrerin um Ruhe. Es fällt den Kindern zwar schwer aufzupassen, aber nach einigen Mahnungen gelingt es doch. Alle sind gespannt auf die Überraschung, welche die Lehrerin ihnen angekündigt hat. Ihr Ziel ist eine alte Ruine auf einem Hügel, wo sie ein Feuer machen und braten werden. Soviel wissen sie schon. Aber was sie dort erwartet, erfahren sie jetzt.
Die Lehrerin hat irgendwo in der Ruine einen grossen Koffer versteckt.
„Das ist der Schatz, den ihr suchen sollt. Darin befinden sich Kleider vom Schultheater, die ihr anziehen dürft. So könnt ihr euch in richtige Ritter, Könige, Königinnen und Burgfräuleins verwandeln.“
Der Jubel ist riesengross. Nun fällt es ihnen schwer zu warten, bis sie aussteigen und mit der Wanderung beginnen dürfen. Alle möchten schon dort sein.
Endlich hält der Zug an. In mehr oder weniger geordneter Reihe wechseln sie ins Postauto. Nach kurzer Zeit steigen sie wieder aus. Die Wanderung beginnt.
Die Sonne sticht schon recht heiss vom Himmel herunter. Thomas und sein Freund sind aber trotzdem immer bei den vordersten. Zwischendurch müssen sie warten, bis auch die letzten wieder aufgeschlossen haben.
Diesmal verbringen sie die Zeit an einem Brunnen. Mit dem frischen Wasser kühlen sie ihre überhitzten Gesichter und Arme. In der Ferne sehen die Kinder schon ihr Ziel, die alte Ruine.
„Wie lange müssen wir wohl noch wandern, bis wir dort sind?“
In der Nähe des Brunnens steht ein grosser, alter Lindenbaum. Thomas kann den süssen Duft der Lindenblüten bis zu ihrem Warteplatz riechen. Er sitzt neben seinem Freund auf dem Brunnenrand und macht mit Wassertropfen ein Muster auf den Boden. Da hören sie plötzlich überraschte Rufe aus der Nähe.
Einer der Drittklässler ist zum Baum gelaufen. Beim rundherum rennen hat er etwas entdeckt. Auf dem Boden, an den Baumstamm gelehnt, steht ein grosser Spiegel. Sofort stürmen alle Kinder hin. Es gibt ein grosses Gedränge vor dem Spiegel. Jedes Mädchen, jeder Bub will hinein schauen. Sie schneiden lustige, gefährliche, traurige und fröhliche Grimassen.
Jetzt steht gerade ein Mädchen direkt vor dem Spiegel. Sie zieht ihre Augen zu dünnen Schlitzen, so dass sie selber sicher fast nichts mehr sieht. Einen der freien Finger hakt sie im Mund ein, mit der anderen Hand drückt sie die Nase platt. Mit der zusätzlich gerunzelten Stirn sieht sie urkomisch aus. Die Kinder halten sich die Bäuche vor lachen.
Inzwischen sind auch die langsamsten Kinder mit der Lehrerin hier angekommen. Sie spüren ihre Müdigkeit von einem Moment zum andern nicht mehr. Mit fröhlicher Ausgelassenheit drängen sich alle nach vorne. Das gibt ein Geschubse und Gedrücke.
Jetzt ist die Reihe an Thomas, ein lustiges Gesicht zu machen. Aber er erstarrt vor dem Spiegel. Auch die andern Kinder werden ruhig und sperren Mund und Augen auf. Obwohl Thomas direkt vor dem Spiegel steht, ist sein Spiegelbild darin nicht zu sehen. Es ist, wie wenn der Knabe nicht da wäre. Was geht hier vor?
Thomas selber scheint dieser Spiegel eher wie ein Fenster. Er sieht nicht die Spiegelbilder seiner Klassenkameraden, sondern einen nahen Hügel mit einem schönen Schloss darauf. Eine unwiderstehliche Anziehungskraft geht für ihn vom Spiegel aus. Er wird langsam immer näher gezogen, bis er mit einem letzten Schritt durch den Spiegel hindurch geht.
Wo bin ich?
Thomas steht auf einer Wiese. Neben ihm wächst ein junger Lindenbaum. Auf dem nahen Hügel sieht er immer noch das grosse Schloss mit den vielen Türmen. Auf jeder Turmspitze flattert eine farbige Fahne lustig im Wind.
Ganz in der Nähe führt eine staubige Landstrasse an einem Brunnen vorbei.
Als Thomas unschlüssig da steht und sich umschaut, hört er plötzlich ein fröhliches Pfeifen. Er entdeckt einen Jungen, ungefähr in seinem Alter, der um die nahe Wegbiegung auf ihn zu kommt. Der fremde Knabe ist barfuss und hat wegen der Hitze die langen Ärmel seines groben, weissen Hemdes weit nach hinten geschlagen. Am Arm trägt er einen kleinen Korb. Als er Thomas sieht, zögert er und bleibt dann überrascht stehen. Nachdem sich die beiden eine Zeit lang stumm betrachtet haben, kommt der fremde Junge langsam auf Thomas zu.
„Wer bist denn du?“ fragt er.
„Ich heisse Thomas. Und du?“
„Jakob.“
„Sag mal, warum hast du mich vorhin so genau gemustert?“, will Thomas wissen.
Jakob antwortet nicht sofort. Er ist sich seiner Sache noch nicht ganz sicher. Aber dann sagt er:
„Im ersten Moment dachte ich, du seiest Eduard, der Sohn unseres Königs. Du gleichst ihm aufs Haar. - Ausserdem bist du so seltsam gekleidet. Ein solches Hemd trägt bei uns niemand. Und warum hast du deine Hose so kurz abgeschnitten? Das ist doch schade um den guten Stoff!“
„Das ist kein Hemd“, antwortet Thomas, „sondern ein T-Shirt und die Hose ist nicht abgeschnitten. Das sind doch alles ganz normale Kleider!“
„Gibst du mir dein Wort, dass Thomas wirklich dein richtiger Name ist?“
„Aber natürlich heisse ich so! Und, was erzählst du da von einem König?“, fügt er an. „Den gibt es doch bei uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr.“
„Sag das nicht“, erwidert Jakob. „Dort drüben im Schloss wohnt er. Wir müssen ihm jedes Jahr nach der Ernte unsere Abgaben bringen. Manchmal reitet er mit seinem Gefolge an unserem Hof vorbei. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich Prinz Eduard schon gesehen. Er trug wunderschöne Kleider und sass auf einem weissen Pferd.
Du musst von weit her kommen, wenn du das alles nicht weisst. Aber lassen wir das! Meine Mutter hat mich geschickt, die Lindenblüten von dort zu sammeln. Hilfst du mir?“
Dabei zeigt er auf den kleinen Lindenbaum, in dessen Nähe Thomas steht.
„Es ist das erste Mal, dass er blüht. Seit ein paar Jahren haben wir keine Lindenblüten mehr gehabt“, fügt Jakob hinzu.
Gemeinsam machen sie sich an die Arbeit und Thomas versucht zu erklären, wie er hierher gekommen ist. Jakob versteht überhaupt nichts.
Während der ganzen Zeit hören sie das Summen der zahlreichen Bienen, die vom süssen Lindenduft angelockt werden.
Jakobs Korb ist bald gefüllt. Die beiden Kinder haben alles gepflückt, was sie erreichen können. Eine Handvoll nimmt Thomas in seine Tasche. Zwischendurch riecht er immer wieder daran. Dann machen sich die beiden auf den Heimweg. Sie haben abgemacht, dass Thomas vorerst mal mit Jakob nach Hause kommt, bis sie Genaueres darüber wissen, wie Thomas diese Gegend erreicht hat und wieder nach Hause zurückkehren kann.
Während der kurzen Zeit, die sie sich nun kennen, sind sie schon gute Freunde geworden. Jakob empfiehlt Thomas, seinen Eltern zu Hause eine andere Geschichte zu erzählen, da sie jene mit dem Spiegel bestimmt nicht glauben würden. Zuerst aber will er Thomas die gleichen Kleider
geben, wie er sie trägt, damit sein neuer Freund hier nicht mehr so auffällt.
Jakob wohnt mit seinen Eltern und sechs Geschwistern auf einem kleinen Bauernhof. Neben dem Haus steht ein Ziegenstall, auf der anderen Seite ist ein grosser Gemüsegarten angelegt. Rund ums Haus gackern und scharren die Hühner und nehmen in den kleinen Vertiefungen, die sie sich gemacht haben ein Sandbad. Vor der Haustüre liegt eine Katze zufrieden in der Sonne und döst.
Langsam nähern sich die beiden Knaben dem Hof. Während Thomas sich hinter dem Holunderbusch versteckt, geht Jakob zum Haus und schaut, ob er jemanden von seiner Familie antrifft. Zum Glück ist gerade niemand da. Er ruft Thomas und der kommt geschwind hinten nach.
Die beiden wissen nicht, dass sie beobachtet werden, als sie leise zur Tür hinein schleichen.
Im Korridor können sie zuerst gar nichts sehen. Nach der hellen Sonne draussen müssen sich ihre Augen erst an das Dämmerlicht hier drinnen gewöhnen. Jakob führt Thomas ans Ende des Ganges zu seinem Zimmer. Er öffnet die Tür und erschrickt heftig. Thomas schaut über die Schultern seines Freundes ins Zimmer.
Da steht ein Mann mit langem weissem Bart und einem Spitzhut auf dem Kopf. Ein langer und sehr weiter ärmelloser Mantel umhüllt seine Gestalt.