Leseprobe: Die Wunschperle

Inhaltsverzeichnis

Die Suche

Ein unmöglicher Wunsch

Die Idee der Meeresschnecke

Die Entscheidung

Der Seestern

Die Suche geht weiter

Ninfia springt ein

Der dunkle Schatten

Seepferdchen, wo bist du?

Geduld

Der Dank

Das Zusammentreffen

In der Höhle

Die Flucht

Die Überraschung

Kurz vor dem Ziel

Am Ufer

Das Wiedersehen

 

Urgrossvaters Geburtstag

Einsam

Ein Brief von Urgrossvater

Abreise

Am Sammelplatz

Verfolgt

In der Falle

In den tiefsten Tiefen

Der Schwertwal

Auf, in den Norden

Es geht zügig voran

Hilfe!

Gute Freunde

Die Wege trennen sich

Die Rettungsaktion

Unverhoffte Begegnung

Der Eiskönig

Geburtstag

Urgrossvaters Wunsch

Neue Freundschaft

 

Anhang

Meeresschildkröte

Seestern

Seepferdchen

Muräne

Delfin

Riesentintenfisch

Schwertwal

 

 

 

Ein unmöglicher Wunsch

 

Heute ist ein Freudentag! Im Meeresschloss wird ein grosses Fest vorbereitet. Des Königs jüngste Tochter hat Geburtstag. Viele Gäste werden erwartet. Sie alle wollen der Prinzessin Ninfia gratulieren und ihr Geschenke bringen. Die Vorbereitungen zum Fest dauern schon den ganzen Tag.

 

Ninfia sitzt mit der Meeresschildkröte Taruga im Palastgarten. Dort lauscht sie den Erzählungen ihrer Freundin. Wann immer sie können, sind sie zusammen. Die Prinzessin hat tausend Fragen und ihre Augen blicken sehnsüchtig nach oben.

 

Ninfia ist sehr hübsch. Alle bewundern sie dafür. Ihre langen Haare glänzen wie ein Sonnenstrahl, der durchs Wasser gleitet. Ihr Gesicht ist so schön, dass jeder Meeresbewohner sie anstaunt. Aber nicht nur ihr Äusseres erfreut alle. Sie hat auch ein gutes Herz und hilft, wo immer es nötig ist. Heute trägt sie ihr Lieblingskleid, ein schimmerndes Gewand, das ihre eleganten Bewegungen lieblich umspielt.

 

Jeder Wunsch wird ihr von den Augen abgelesen. Man müsste meinen, sie sei das glücklichste Wesen im grossen weiten Ozean. Aber das ist leider nicht so. Im tiefsten Innern sehnt sich die Prinzessin nach etwas, das ihr nicht erfüllt werden kann.

 

Von den Nixen hat sie erfahren, dass es ausserhalb des Meeres noch etwas anderes gibt, als nur Wasser. Es wird Land genannt. Und dort möchte sie leben können. Aber dieser Wunsch bleibt den meisten Meeresbewohnern verwehrt. Nur ganz wenige, wie zum Beispiel die Meeresschildkröten, können im Wasser und auf dem Land leben. Die Prinzessin würde dort vertrocknen.

 

Die Wassermänner, zu denen Ninfia gehört, sehen zwar aus wie Menschen, können aber das Wasser nicht für längere Zeit verlassen. Sie halten es nur ein paar Stunden aus – und auch das nur ab einem bestimmten Alter – dann müssen sie dringend wieder ins kühle Nass zurück, sonst bekommen sie schlimme Krankheiten. Im Allgemeinen zieht es die Wassermänner aber nicht an Land, sondern eher in die Weiten und Tiefen des Ozeans. Deshalb gibt es nur wenige Wassermänner, die schon an Land gewesen sind. Und auch die kennen nur gerade einen schmalen Küstenstreifen.

 

„Hab doch noch ein wenig Geduld“, tröstet Taruga das Mädchen. „Irgendeinmal wird auch für dich die Zeit kommen, dass du deinen ersten Landausflug machen darfst. Dann kannst du deine Neugierde endlich stillen.“

 

„Ein wenig, sagst du? Das dauert noch über zehn Jahre! Das ist doch eine Ewigkeit!“

 

„Auch das geht einmal vorbei.“

 

„Bei mir nicht! das dauert viel zu lange. Ausserdem möchte ich nicht nur die Küste kennen lernen, sondern auch das Landesinnere und die Lebewesen, die dort wohnen.“

 

„Diese Teile kenne auch ich nicht. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich wieder im Wasser bin. Hier bewegt es sich viel leichter!“

 

„Bei mir wäre das sicher ganz anders!“, antwortet Ninfia.

 

 

 

„Aber denk doch daran“, bittet die Schildkröte die Prinzessin. „Du bist wirklich noch zu jung. In deinem Alter könntest du die trockene Luft noch nicht einatmen, ohne Schaden zu nehmen.“

 

„Das Schlimmste ist, dass mein Wunsch nie ganz erfüllt werden kann. Der grösste Teil des trockenen Landes wird mir verborgen bleiben. Aber du hast recht, lassen wir das jetzt! – Erzähl mir doch noch etwas von deinem letzten Landaufenthalt. Wie waren die Geräusche, die du gehört hast?“

 

Im Moment bleiben Ninfia nur die Erzählungen ihrer Freundin Taruga und davon kann sie nicht genug bekommen. Immer wieder stellt sie ihr Fragen über die Landschaft, die Lebewesen und die Art des Lichtes dort. Auch kann sie sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nicht von Wasser umspült wird.

 

Endlich ertönt das Muschelhorn. Es wird Zeit, dass Ninfia hinein ins Schloss geht. Sie setzt sich in eine Muschelschale neben den Thron ihres Vaters und wartet gespannt. Schon werden die ersten Gäste angekündigt.

 

Sogar Perlmutina, eine Freundin aus dem Volk der Meeresnixen, ist aus dem Nachbarreich gekommen. Sie ist die erste Gratulantin und bringt ihr ein wunderschönes, in allen Farben schillerndes Schneckenhaus. Das hat sie selber gesucht. Weit ist die Nixe dafür im Meer herum geschwommen, bis sie es gefunden hat. Bewundernd und vorsichtig nimmt Ninfia es in ihre Hände.

 

 

Von Welle, aus dem Volk der Wassermänner erhält sie eine schön geformte Vase. Die hat er bei einem versunkenen Schiff gefunden. Träumerisch betrachtet Ninfia die feinen Muster, die darauf gezeichnet sind. Dieses Geschenk erinnert sie einmal mehr an ihren grössten Wunsch. Aber den wird ihr niemand erfüllen können.

 

Auch viele Fische in allen Grössen, Formen und Farben kommen ans Fest. Dazwischen kraxeln Krebse, schleichen Schnecken, gleiten Tintenfische und Quallen an Ninfia vorbei. So bringt jeder der Prinzessin etwas besonders Schönes und Kostbares.

 

Das wertvollste Geschenk aber bekommt sie ganz zuletzt von ihrem Vater. Es ist eine silbrigweiss schimmernde Perlenkette. Sofort legt sie sich diese um den Hals. Alle staunen, keiner der Gäste hat je so grosse und vollkommene Perlen gesehen.

 

Ninfia freut sich sehr über alle Geschenke und Glückwünsche. Aber ganz glücklich ist sie trotzdem nicht. Ihr grösster Wunsch ist unerfüllt geblieben. Niemand konnte ihr ermöglichen, die trockene Welt anzuschauen und so lange sie das nicht kann, findet sie keine Ruhe mehr.

 

 

 

Die Idee der Meeresschnecke

 

Leise schleicht sich Ninfia vom Fest weg in den Garten. Die Prinzessin möchte nicht, dass die andern merken wie enttäuscht und traurig sie ist. Alle haben es so gut mit ihr gemeint.

 

Natürlich hat sie schon vorher gewusst, wie unmöglich ihr Wunsch zu erfüllen ist. Aber insgeheim hat sie auf ein kleines Wunder gehofft. Nachdenklich lässt sie sich mit einer feinen Strömung durch den Schlossgarten treiben.

 

Da hört sie hinter sich jemanden rufen.

 

„Warte Prinzessin, ich möchte dir auch noch gratulieren! Leider habe ich es nicht geschafft, rechtzeitig hier zu sein.“

 

Ninfia blickt zurück und sieht eine grosse Meeresschnecke.

 

„Ach du bist es!“, ruft sie ihr entgegen und wartet geduldig, bis die Schnecke bei ihr ist. Diese merkt sofort, dass Ninfia unglücklich ist.

 

 

„Was hast du? Was ist los mit dir? Bist du denn an deinem Geburtstag nicht glücklich?“, will die Schnecke wissen.

 

Nach kurzem Überlegen entschliesst sich Ninfia, der freundlichen Meeresschnecke von ihrem grössten Wunsch zu erzählen. Still hört sie der Prinzessin zu. Danach fällt die Schnecke eine Weile in tiefes Nachdenken, wobei sie immerzu mit ihren Fühlern langsam auf und ab wippt. Ninfia schaut ihr verwundert zu. Endlich beginnt die Schnecke wieder zu sprechen.

 

„Da kommt mir etwas in den Sinn, das ich vor langer Zeit gehört habe. Vielleicht gibt es doch einen Weg, deinen Wunsch wahr werden zu lassen. Aber es ist nicht einfach, wenn es überhaupt geht.“

 

Ninfia wird ganz aufgeregt. Sie kann kaum erwarten, dass die Schnecke wieder spricht. Nach einer kurzen Pause berichtet das Tier gemütlich weiter.

 

„Vor vielen Jahren hat eine Grosstante von mir von einer Zauberperle erzählt. Sie soll jedem, der sie besitzt einen Wunsch erfüllen, auch wenn er noch so unmöglich erscheint. Vielleicht könntest du mit Hilfe dieser Perle einmal das trockene Land anschauen.“

 

Jetzt ist es mit Ninfias Ruhe vorbei. Sie strahlt übers ganze Gesicht und kann kaum mehr still stehen. Sie will unbedingt alles von dieser Perle erfahren. Deshalb bestürmt sie die Schnecke auch gleich mit Fragen.

 

„Du meinst, mit dieser Perle würde mein Wunsch wirklich in Erfüllung gehen, ohne noch lange darauf zu warten? Ist das möglich? Wo kann ich diese Perle finden? Wem gehört sie? Was muss ich tun, damit ich sie bekomme?“

 

Ninfia ist so aufgeregt, dass sie alles auf einmal wissen möchte.

 

„Langsam, langsam“, meldet sich die Schnecke wieder zu Wort. „Ich weiss nicht einmal, ob es diese Perle wirklich gibt, oder ob es nur eine Erzählung meiner Grosstante ist. Sie hat nämlich oft und gerne Geschichten erzählt. Danach soll die Perle einer bösen, hinterlistigen Muräne gehören. Aber wie du sie bekommen kannst, weiss ich nicht. Diese Muräne gibt nämlich nichts her, was in ihrem Besitz ist. Sie sammelt aussergewöhnliche und schöne Dinge.“

 

Deutlich kann die Meeresschnecke Ninfias Enttäuschung an den Augen ablesen. Deshalb tut es ihr leid, dass sie überhaupt davon erzählt hat. Um die Prinzessin auf andere Gedanken zu bringen, fordert sie diese auf:

 

„Komm, wir gehen ins Schloss zu deinen Gästen.“

 

Miteinander mischen sie sich unter die fröhliche Schar. Das Fest dauert noch bis spät in die Nacht hinein. Weit herum leuchtet das freundliche Licht aus den muschelförmigen Fenstern des Schlosses. Aber ganz dabei sein kann Ninfia nicht mehr. Immer wieder schweifen ihre Gedanken ab, zu dem, was sie von der Schnecke erfahren hat.